Vom Manifest zur Materialkritik
Mittwoch, 09.04.2025
Vers une architecture: Reflexionen im Pavillon Le Corbusier, Zürich

Image: Jean Jacques Balzac
Hundert Jahre nach der Veröffentlichung von Vers une architecture stellt sich die Frage neu, welchen Stellenwert Le Corbusiers Forderungen heute einnehmen – im Entwurfsdiskurs, aber auch angesichts planetarer Grenzen, digitaler Umbrüche und gesellschaftlicher Spaltungen. Die Ausstellung Vers une architecture: Reflexionen, die bis zum 23. November 2025 im Pavillon Le Corbusier in Zürich zu sehen ist, nutzt das Jubiläum, um eine kritische Neulektüre des Werkes vorzunehmen.
Kuratiert von Damian Fopp und Simon Marius Zehnder, versammelt die Schau acht internationale Beiträge, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Erbe Le Corbusiers auseinandersetzen – und gleichzeitig auf aktuelle Fragen von Materialität, Technologie und Raumgerechtigkeit reagieren. Der Pavillon selbst, 1967 als letztes gebautes Werk Le Corbusiers eröffnet, bildet dabei nicht nur Kulisse, sondern Teil des inhaltlichen Dialogs.
Beatriz Colomina und Mark Wigley untersuchen anhand der zahllosen Buchausgaben die grafische und inhaltliche Wirkungsgeschichte von Vers une architecture. Ein Forschungsteam an der ETH Zürich analysiert die Rezeption des Manifests im architekturpädagogischen Kontext. Weitere Arbeiten interpretieren Le Corbusiers Sprache, Struktur oder Denkmodell mithilfe algorithmischer Verfahren neu – etwa das Studio von Romina Grillo und Liviu Vasiu gemeinsam mit Christine Gertsch.
Die Beiträge verknüpfen Theorie und Raum, Form und Kritik: Das Drawing Architecture Studio greift den Begriff der „Wohnmaschine“ auf und stellt mobile Wohnsysteme in Pekings urbaner Peripherie vor. Detritus. wiederum entwirft eine Intervention im Pavillon selbst, die die physische Bauform mit den textlichen Prinzipien Le Corbusiers konfrontiert.
Während Jean Jacques Balzac auf Basis von KI-Tools ein eigenes Manifest in Bildern entwickelt, widmet sich Limbo Accra dem Weiterbauen im Bestand – insbesondere verwaisten Betonruinen postkolonialer Modernen in Westafrika. In einem weiteren Beitrag rückt das Projekt Datapolis der TU Delft die Infrastrukturen des Digitalen in den Fokus: Datenräume als gebaute Realität, als städtebauliche Herausforderung und als Gegenbild zum architektonischen Objektverständnis der klassischen Moderne.
Was die Ausstellung bemerkenswert macht, ist nicht der Rückblick. Es ist die konsequente Fortschreibung eines architekturtheoretischen Fundaments – aufgebrochen in Einzelbeobachtungen, übersetzt in Material, Medium und Raumbild. Der Pavillon am Zürichsee wird damit selbst zum Prüfstein dessen, was Vers une architecture in einer Gegenwart bedeuten kann, in der keine Gewissheit bleibt, wie Architektur künftig produziert, vermittelt und bewohnt wird.
Ausstellung: Vers une architecture: Reflexionen
Ort: Pavillon Le Corbusier, Höschgasse 8, 8008 Zürich
Zeitraum: 25. April – 23. November 2025
Website: www.pavillon-le-corbusier.ch